Die mittelalterlichen Handschriftenfragmente des Chorherrenstiftes Seckau
Scheibl, Michaela
Mittelalterliche und frühneuzeitliche Handschriftenfragmente haben als Stellvertreter verloren gegangener Bücher eine große Bedeutung für die buch- und bibliotheksgeschichtliche Forschung. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis hat die Erschließung von „Bücherresten“ in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung gewonnen.
Für die Neuerschließung der Seckauer Handschriften an der Universitätsbibliothek Graz wurde von Beginn an festgelegt, dass die Handschriftenfragmente mit derselben Sorgfalt beschrieben und digitalisiert werden sollen wie die vollständig erhaltenen Handschriften. Diese Vorgabe gilt prinzipiell für jedes Fragment, nicht nur für große Objekte wie Spiegelverklebungen oder solche mit seltenen Texten. Für die Einarbeitung in die Datenbank wurde ein eigenes Fragmente-Erschließungsmodul entwickelt, das sich eng an dem Handschriften-Erschließungsmodul orientiert, dabei jedoch auf die besonderen Charakteristiken und Bedürfnisse des Mediums Fragment eingeht.
Über die Erschließung der Einzelobjekte hinaus werden die s.g. „Membra Disiecta“, d.h. die in verschiedene Trägerbücher eingebundenen Fragmente einer Spenderhandschrift, in virtueller Form wieder zusammengeführt. Ziel ist es, das verlorene Buch so weit wie möglich in Text und Bild zu rekonstruieren. Auf diese Weise wird es der Bibliothek zurückgegeben, in ihren Bücherverband, der eine kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Aussage darstellt, wieder eingefügt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Trägern mit genuin seckauischen Einbänden, die aus den intensiven Umbindungsphasen in gotischer und barocker Zeit stammen.
Im Zentrum des Vortrages stehen zwei/drei Handschriften-Rekonstruktionen, an deren Beispiel der lange Erkenntnisprozess, der mit der Erschließungsarbeit von Fragmenten einhergehen kann, demonstriert wird. Oft lässt sich ein Fragment nur durch das Zusammenspiel vieler Informationen entschlüsseln, die über längere Zeit von Handschriftenbearbeitern und -bearbeiterinnen gewonnen wurden. Nicht immer muss der Text auf dem Fragment lesbar sein, um eine grundlegende inhaltliche Erschließung durchführen zu können. Manchmal genügt schon ein halbes Wort, um eine eindeutige Textidentifikation durchführen zu können. Und mit Hilfe unsichtbarer UV-Strahlen können durch Abrieb unlesbar gewordene Buchstaben wieder sichtbar gemacht werden.
Fragmente schauen nicht immer schön aus. Sie können schmutzig sein, von Leimresten überzogen; kleine Pergamentstreifen mit wenigen Buchstabenresten, für den oberflächlichen Betrachter unbedeutend. Doch wenn man einen näheren Blick riskiert, tritt ihre Hinfälligkeit zurück, gewinnen sie an Substanz und Bedeutung und lassen die Bücher erahnen, die sie einmal gewesen sind.