Brauchen wir das überhaupt (noch)? Vom Bestandsauf, -um und -abbau in digitalen Zeiten.

Kempf, Klaus

In der „guten alten (analogen) Zeit“ war der eigene Bestand und dessen Pflege in jeder Bibliothek Mittelpunkt aller Aktivitäten. Im digitalen Zeitalter ist dies ganz anders. Mehr und mehr Bibliotheken verabschieden sich von einem vorsorgenden, dem just-in-case-Gedanken verpflichtenden Bestandsaufbau. Gepflegt werden allenfalls noch sog. Sondersammlungen. Es dominiert der bedarfsorientierte, just-in-time-Ansatz, wenn dem Benutzer nicht schon ganz die Titelauswahl im Sinne der sog. PDA überlassen und die Bibliothek sich auf die Finanzierung bzw. Beschaffung seiner Wünsche beschränkt. Aber damit ist noch nicht Schluss. Nicht wenige Bibliotheken stellen ihre bisherigen Bestände i.S. einer gezielten deacquisition policy, vulgo Aussonderungen zur Disposition.

Es stellt sich die Frage, ob das auf Dauer für die Bibliothek und ihre Nutzer, ja die Wissenschaftsgemeinschaft und den Kulturstaat an sich gut gehen kann. Auch in der digitalen Informationswelt ist die Sammlung, Aufbereitung und Vorhaltung von Dokumenten, oftmals einfach content genannt, nicht a priori obsolet, sondern eine Aufgabe von herausragender wissenschafts- und kulturpolitischer Bedeutung, die förmlich nach dem Einbringen bibliothekarischer Kompetenz bzw. einem entsprechenden Tätigwerden von Bibliotheken ruft. Die so ganz anders geartete digitale Information mit ihren sehr spezifischen Rahmenbedingungen verlangt auch beim Bestandsaufbau nach anderen Strukturen und Abläufen als dies bisher der Fall war. An die Stelle lokal dominierter Sammlungskonzepte müssen radikal arbeitsteilig organisierte, partiell aber auch zentralisierende, nationale oder auch international orientierte Ansätze treten. Medienimmanente technische und/oder rechtliche Besonderheiten verlangen entsprechend dynamische Sammlungskonzepte (Beispiel: Sammlung von websites). In der Folge müssen Begriffe, wie „Bestand“ und „Bestandsaufbau“ sowie „Sammlung“ eine Neubewertung und gegebenenfalls Neuausrichtung erfahren.

In dem Vortrag sollen erste Ansätze für solche digitale Sammlungskonzepte mit ihren speziellen Rahmenbedingungen vorgestellt und in ihrer Anwendbarkeit für die eigene bibliothekarische Realität hinterfragt werden.